Menschen auf der Flucht
Flüchtlingsströme in der langfristigen Sichtweise
Seit über sechzig Jahren dokumentiert das Flüchtlingshilfswerk UNHCR die weltweiten Flüchtlingsströme der Nachkriegszeit. Eine Datenanalyse durch die Berner Zeitung zeigt, welche Länder mit dem bedeutendsten Aderlass an Menschen konfrontiert sind. Aus diesen Fluchtsituationen können Lehren für die aktuelle Krise gezogen werden.
Die syrische Flüchtlingskrise beherrscht derzeit das politische Tagesgeschäft in Europa. Syrien taucht erst seit Mitte der 2000er-Jahre regelmässig in der UNHCR-Jahresstatistik als eines der zwanzig grössten Herkunftsländer von Flüchtlingen auf (siehe Kasten). In den vergangenen zwei Jahren rückte Syrien sogar auf den ersten Rang vor. Der syrische Bürgerkrieg im Nachgang zum Arabischen Frühling und das Aufkommen des Islamischen Staates haben ab dem Jahr 2011 die Situation für die Menschen dort drastisch verschärft.
Das ist die kurzfristige Perspektive.
Syrien und Ex-Jugoslawien sind Momentaufnahmen
In der langfristigen Sichtweise eines halben Jahrhunderts ist die aktuelle Flüchtlingstragödie hingegen nur eine Momentaufnahme, genauso wie der Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien Mitte der 1990er-Jahre.
Andere Nationen sind schon seit mehreren Jahrzehnten ununterbrochen von Krieg, Konflikten und Verfolgung betroffen. Diese Zeitung dokumentiert in einer Grafik die zwanzig bedeutendsten Herkunftsländer von Flüchtlingen im Zeitraum von 1960 bis 2014. Wir zeigen ausserdem anhand dreier Brennpunkte in Afrika, Südostasien und dem Nahen Osten, wohin Menschen in Not typischerweise flüchten.
Der Sudan, Angola und die Demokratische Republik Kongo sind in der untersuchten Zeitspanne am häufigsten in den Rängen 1 bis 20 erschienen. Kämpfe für die Befreiung von den europäischen Kolonialherren, Stellvertreterkonflikte im Kalten Krieg und Bürgerkriege nach dem Zusammenbruch des Ost-West-Blocks haben in diesen Ländern jedes Jahr Hunderttausende Menschen zur Flucht gezwungen. Der Sudan und der Kongo sind heute noch in den jährlichen Zahlen des UN-Flüchtlingshilfswerks an vorderer Stelle zu finden.
Dank des ausgewerteten Datenmaterials lassen sich verschiedene Aussagen über das Fluchtverhalten von Menschen in Not und die Folgen für die Krisenregionen machen. So zieht es Flüchtlinge nicht in erster Linie in die westlichen Länder. An Leib und Leben bedrohte Personen müssen sich rasch gefährlichen Situationen entziehen. Sie flüchten deshalb am ehesten an einen anderen Ort im eigenen Land oder in einen Nachbarstaat.
Der Entscheid, längere und damit gefährlichere Fluchtrouten nach Europa oder in die USA in Kauf zu nehmen, kommt erst später. «Bereits vorhandene Gemeinschaften in westlichen Grossstädten, die bei der Flucht und der Ankunft helfen, sowie die eine oder andere Erfolgsgeschichte aus dem Westen können den Ausschlag geben», sagt Alberto Achermann, Professor für Migrationsrecht an der Universität Bern. Es sei einerseits zu beobachten, dass erst junge Männer ein Asylland suchen. Bei erfolgreicher Flucht in den Westen komme es dann zum Familiennachzug.
Andererseits seien besonders die angelsächsischen Länder als Fluchtziel attraktiv, weil dort die Weltsprache Englisch gesprochen werde.
Schliesslich sind die Herkunftsländer von Flüchtlingen oftmals selber auch Aufnahmeländer. Das zeigt das Beispiel des Irak. Durch den Putsch der Baath-Partei, die Machtübernahme durch Saddam Hussein und die Kriege mit dem Iran und den USA wurde das arabische Land zu einem Brennpunkt im Nahen Osten. Nicht nur flüchten Iraker nach Syrien, sondern Syrer auch in den Irak. Es ist ein Teufelskreis, der ganze Regionen destabilisiert.
Was das bedeutet, erklärt Joachim Stern vom UNHCR mit Blick auf die aktuelle Lage im Nahen Osten: «Die Gastländer und die Flüchtlinge in den Gastländern haben mit unterschiedlichsten Problemen zu kämpfen.» Der Leiter der Rechtsabteilung des UNHCR-Büros Schweiz ergänzt: «Diese Schwierigkeiten reichen vom rechtlichen Status zu ganz elementaren Fragen der Nahrungssicherheit, der medizinischen Versorgung, des täglichen Überlebens insbesondere im Winter, aber auch etwa der Schulbildung für Kinder.»
Von besonderem Interesse ist die Flüchtlingssituation in Vietnam, da es Parallelen zur aktuellen Krise gibt. Nach dem Sieg der Kommunisten im Vietnamkrieg gegen die prowestlichen Kräfte im Süden des Landes kommt es von 1978 bis Anfang der 1990er-Jahre zu einer Flüchtlingswelle. In dieser Zeit fliehen schätzungsweise zwei Millionen Vietnamesen vor dem kommunistischen Regime.
Etwa 800’000 Menschen verlassen auf dem Wasserweg in einfachen Booten ihr Land. Als Reaktion richten Aufnahmeländer von Vietnamesen wie Indonesien und Malaysia Lager für diese Flüchtlinge ein. Diese sogenannten Boat People kommen in den 1980er-Jahren auch in der Schweiz unter.
Einer von ihnen ist der damals achtjährige Phuc Tran. Er und seine Familie haben zu diesem Zeitpunkt eine eineinhalbjährige Odyssee hinter sich. Auf einem Boot flüchten sie Anfang 1979 mit rund 500 anderen Menschen nach Malaysia. Auf der mehrtägigen Flucht werden sie von Piraten überfallen.
Malaysia leitet die Familie Tran in ein Lager in Indonesien weiter, wo sie rund ein Jahr verbringt. Dort bietet ein Schweizer Vertreter den Trans Asyl in der Schweiz an. Sie nehmen an, obwohl sie noch nie von diesem Land gehört haben und eigentlich nach Kanada oder Australien haben gelangen wollen. «Als wir am Flughafen Kloten ankamen, wurden wir zuerst desinfiziert und neu eingekleidet», erinnert sich Tran.
Dann ging es mit dem Bus weiter nach Selzach in ein Durchgangszentrum. Dort fiel ihm sofort die landwirtschaftliche Umgebung auf. «Ich wusste nicht, ob das nun gut oder schlecht ist. Denn in Vietnam bedeutete Landwirtschaft Kommunismus.» Phuc Tran wird auf die Marktwirtschaft setzen. Der 45-Jährige ist heute Restaurantbetreiber in Thun.
Was ist ein Flüchtling? Gemäss Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 ist ein Flüchtling eine Person, die «() aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich ausserhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will ()»
Die internationale Staatengemeinschaft beschliesst an einer Konferenz unter Federführung der USA eine ordentliche Aufnahme von über 600000 vietnamesischen Flüchtlingen, sprich: Kontingente. Die USA, Kanada und Australien teilen sich zwischen 1980 und 1997 den Löwenanteil.
Für Migrationsrechtler Achermann wäre das ein Lösungsansatz für die aktuelle Krise: «Es braucht eine grosse internationale Flüchtlingskonferenz», sagt er. «Was wir jetzt erleben, ist kein europäisches Problem, sondern ein globales.»
Ende 2014 zählte das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) weltweit 59,5 Millionen «Personen von Bedeutung», also: Flüchtlinge, Binnenvertriebene, Rückkehrer, Asylsuchende und Staatenlose. Das ist Rekord und entspricht ungefähr der Bevölkerung von Italien.
Die bisherigen Höchstwerte notierte das UNHCR in den Jahren 1994 im Nachgang zum Völkermord in Ruanda und 2007 im Zuge der Nachkriegswirren im Irak. Ende 2014 war die Flüchtlingsbevölkerung 28-mal grösser als Ende 1951.
Die Zahl der Flüchtlinge, welche in die Schweiz gekommen sind, hat sich in den vergangenen 64 Jahren auf 83566 verachtfacht. Der Trend weist seit dem Jahr 2008 wieder nach oben.
Den bisherigen Spitzenwert notierte die Schweiz als Aufnahmeland im Jahr 2000 mit knapp 112000 «Personen von Bedeutung». Den grössten Anteil mit rund einem Drittel stellten damals Einwohner aus Kosovo, die vor dem Kosovokrieg geflohen sind. Im vergangenen Jahr waren Eritrea, Syrien und Sri Lanka die drei grössten Herkunftsländer von Flüchtlingen in der Schweiz.met
Seit dem Jahr 1951 führt das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) mit Sitz in Genf eine jährliche Statistik über «Personen von Bedeutung» (persons of concern). Gemeint sind von den Vereinten Nationen anerkannte Flüchtlinge, Menschen in «flüchtlingsähnlichen Situationen», Binnenvertriebene, Asylsuchende, Rückkehrer und Staatenlose.
Die knapp fünf Millionen Palästinenser, welche das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten unterstützt, tauchen nicht in dieser Statistik auf.
Ab dem Jahr 1960 hat das UNHCR damit angefangen, neben den Aufnahmeländern auch die Herkunftsländer von Personen auf der Flucht auszuweisen.
Für die Analyse der bedeutenden Flüchtlingssituationen in den vergangenen 54 Jahren hat diese Zeitung nur Daten berücksichtigt, welche die Herkunft der Vertriebenen eindeutig einem Land oder einem Gebiet zuordnen. Es wurde ein Satz mit 1,1 Millionen Daten ausgewertet.
Die Datenbank des UNHCR ist öffentlich abrufbar.
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