Nachmittags gibts für die Alkoholiker Bier und Wein

Von Sandra Rutschi und Dominik Galliker

August Widmann ist einer, der sagt, ohne sein Bier könnte er nicht mehr existieren. Wie die anderen rund 100 Bewohnerinnen und Bewohner im Hospice Pré-Aux-Boeufs ist der 64-Jährige Alkoholiker. Einer, der überzeugt davon ist, nie mehr anderswo als in dieser Wohn- und Beschäftigungsstätte in Sonvilier leben zu wollen. An diesem Ort, wo Alkoholiker nach zig erfolglosen Entzügen stranden und kontrolliert trinken dürfen – je nach Abmachung maximal anderthalb Liter Bier oder einen halben Liter Wein am Tag. Entzüge werden hier keine durchgeführt.

Wer hier wohnt, hat bereits zig erfolglose  Entzüge hinter sich.

Dieses Konzept ist derart einzigartig, dass Süchtige aus der ganzen Schweiz von Sozialdiensten und anderen Behörden hier hin gewiesen werden.

Nur etwa die Hälfte der Bewohner stammt aus dem Kanton Bern. Ein Platz kostet für einen Berner rund 135 Franken pro Tag, Auswärtige bezahlen 20 Franken mehr. Finanziert werden die Aufenthalte durch die persönliche IV-Rente und die Sozialhilfe einer Gemeinde. Einige Bewohner leben seit vierzig Jahren hier, im Durchschnitt bleiben sie sieben Jahre.

Bild: Urs Baumann

Ein Chübeli um 13 Uhr, ein Grosses um 16.30 Uhr trinkt August Widmann zurzeit. So legte es die Heimleitung bei seinem Eintritt fest. Der Gesundheitszustand, andere Medikamente und die Art der Arbeit bestimmen mit, wie viel jemand trinken darf. Acht Deziliter sind ein tiefes Mass für einen, der einst harassenweise Bier konsumierte.

Widmann verfiel dem Alkohol, als sein Vater starb. Damals wusste er:Jetzt ist die glückliche Jugend vorbei.

Vor acht Jahren kam er dann nach Le Pré-aux-Boeufs: Die ehemalige Knabenerziehungsanstalt, die aus mehreren Wohnhäusern sowie einem Landwirtschaftsbetrieb besteht und in der die Bewohner zur Beschäftigung und zum Eigengebrauch Gemüse und Getreide anbauen, käsen, Tiere betreuen oder Schreiner-, Töpfer und Textilarbeiten leisten.  

Bild: Urs Baumann

Abgelegen ist es hier, bis in die nächste Beiz im Dorf geht man eine gute halbe Stunde. Diese Distanz hilft ihm, weiss Widmann heute. Denn letztes Jahr versuchte er noch einmal, gemeinsam mit seiner Lebenspartnerin  in einer Institution in Grenchen etwas zentraler zu leben. Es dauerte nicht lange, und das Paar stürzte wieder ab.

Seit drei Monaten leben Erika Twerenbold und August Widmann nun wieder in einer Zweizimmerwohnung in Sonvilier. Wenn Widmann von seiner Arbeit mit den Pferden erzählt, leuchten seine Augen. Twerenbold arbeitet gerne im Restaurant, in dem der Alkohol ausgeschenkt wird. Hier putzt sie nachmittags Gläser, die Tische, den Tresen. Vormittags reinigt sie die Gänge, auch das mache Spass, nur die Toiletten sind ihr jeweils zuwider. 1.50 bis 3 Franken erhalten die Bewohner pro Stunde je nach Beschäftigung. Damit können sie sich im Restaurant Bier kaufen – zumindest so viel, wie für sie vorgesehen ist. Die 57-Jährige hat ihren Konsum von einst einer Flasche Wein auf ein Chübeli täglich reduziert.

Bild: Urs Baumann

Erika Twerenbold geriet mit Ende zwanzig in den Strudel der Sucht. Ihr erster Mann war drogenabhängig. Er schlug sie, bedrohte sie mit dem Messer, um an das Geld zu gelangen, das sie eigentlich für Essen aufbewahrt hatte.

Vor acht Jahren kamen Erika Twerenbold und August Widmann auf einer Entzugsstation zusammen. «Es gibt uns Halt, das gleiche Schicksal zu teilen», sagt sie.

Drei Paare leben in Sonvilier – doch der Grossteil der Bewohner trägt sein Schicksal alleine. Achtzig der hundert Bewohner sind Männer, im Durchschnitt sind sie 58-jährig. Rolf Wüthrich ist 51 und gerne für sich alleine.  Er arbeitet in der hauseigenen Schreinerei, führt Reparaturen an den Gebäuden durch und baut in der Freizeit Modellschiffe. 

«Ich habe auch nie so viel getrunken wie die anderen Leute hier», sagt Rolf Wüthrich. Vor allem im Ausgang spielte der Alkohol eine grosse Rolle. Ein Nachtklubbesuch artete vor 15 Jahren derart aus, dass er eine Freiheitsstrafe im Massnahmenzentrum St. Johannsen erhielt. Über den Grund mag Wüthrich nicht mehr sprechen.

Bild: Urs Baumann

Doch in St. Johannsen war es, als seine Nieren definitiv den Dienst verweigerten. Nach einer Operation im Inselspital wollte ihn kein Alters- und Pflegeheim aufnehmen. Also organisierte ihm seine Sozialarbeiterin einen Platz im Le Pré-aux-Boeufs.

Unterdessen, sagt Wüthrich, trinke er keinen Tropfen Alkohol mehr.

Weg will Rolf Wüthrich von hier nicht, obschon er mittlerweile trocken ist. Er habe dem Personal so viel zu verdanken, sagt er, die Arbeit in der Schreinerei mache Spass, er dürfe basteln und im Landwirtschaftsbetrieb mit anpacken, wenn er sich abreagieren müsse.

“Ich komme wohl langsam zur Vernunft.”

So lange Wüthrich will, kann er in Sonvilier bleiben. Denn bei seinem Gesundheitszustand wäre für den 51-Jährigen nur ein Alters- und Pflegeheim als Alternative denkbar. Doch solche Heime wollen Leute wie Wüthrich in der Regel nicht aufnehmen, und Beschäftigung in einer Schreinerei oder einem Bauernbetrieb hätte er dort nicht.

Und vielleicht wäre der Griff zur Flasche dann verlockender, als es jetzt in Sonvilier der Fall ist.

Bild: Urs Baumann

Nachmittags gibts für die Alkoholiker Bier und Wein
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