Terrorismus in Westeuropa

Zehn Eindrücke und zehn Fakten nach den Anschlägen in Paris Jon Mettler

Erster Eindruck

Terrorismus nimmt in Westeuropa zu

Das ergibt der Faktencheck

Falsch

Der dschihadistische Terrorismus ist eine Bedrohung. Allerdings war Westeuropa in der Vergangenheit tödlicheren Gefahren ausgesetzt. So erreichte der Terrorismus hier seinen bisherigen Höhepunkt in den 1970er-Jahren mit total 3743 Anschlägen in diesem Jahrzehnt. Das zeigt eine Auswertung der globalen Terrorismusdatenbank der Universität von Maryland in den USA. Nahost-Konflikt, Linksextremismus und bewaffnete Unabhängigkeitsbewegungen in Spanien, Frankreich und Grossbritannien machten damals europäische Städte und ihre Einwohner zu Angriffszielen.

In den darauffolgenden Jahrzehnten hat die Zahl der Anschläge abgenommen. Zu den meisten Angriffen in einem einzigen Jahr kam es 1979 mit total 849 Attacken. Zum Vergleich: 2014 waren es 136 Anschläge, 4 weniger als 2013.

Zweiter Eindruck

Frankreich ist in Westeuropa am meisten von Terrorismus betroffen

Das ergibt der Faktencheck

Falsch

Gefühlsmässig scheinen es Terroristen auf die französische Hauptstadt abgesehen zu haben: Das Attentat auf das Satiremagazin “Charlie Hebdo” im Januar 2015 und die koordinierte Angriffe auf Zivilisten im November 2015 sowie die ebenfalls tödliche Anschlagserie von 1986 und 1987 kommen einem in den Sinn.

Was die Gesamtzahl der Anschläge und der Todesopfer von 1970 bis 2014 betrifft, leidet allerdings Grossbritannien am meisten unter Terrorismus. Ein Grund ist bis zum Jahr 1998 hausgemacht: Katholische und protestantische Gruppen kämpfen für oder gegen die Unabhängigkeit von Nordirland vom Vereinigten Königreich. Diese Organisationen scheuen sich dabei nicht, in Nordirland und England Gewalt gegen Zivilisten anzuwenden.

Frankreich ist aber nach Spanien das dritthäufigste Ziel von Terroristen. Gründe sind nicht nur Frankreichs Rolle als ehemalige Kolonialmacht und aktuelle Grossmacht, sondern auch innenpolitische Konflikte. So war die korsische  Unabhängigkeitsbewegung Frontu di Liberazione Naziunale Corsu (FLNC) in den 1980er- und 1990er-Jahre für die meisten Terroranschläge in Frankreich verantwortlich.

Dritter Eindruck

Selbstmordanschläge in Europa sind ein neues Phänomen

Bei den Anschlägen vom 13. November 2015 in Paris sprengten sich sechs Terroristen selbst in die Luft. Auch wenn es sich dabei nicht um die ersten Selbstmordattentate in Westeuropa handelt, ist diese Vorgehensweise in der langfristigen Sichtweise neu. Erst seit dem Jahr 2004 sind total fünf Kamikaze-Angriffe in Italien, England, Schottland, Schweden und Dänemark dokumentiert. Alle haben einen dschihadistischen Hintergrund und sind bezeichnenderweise nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York erfolgt.

Der verheerendste Selbstmordanschlag in Westeuropa ereignete sich am 7. Juli 2005, als sich vier Terroristen in London in öffentlichen Verkehrsmitteln in die Luft sprengten. Sie rissen 52 Menschen mit in den Tod und verletzten über 700 Pendler.

Vierter Eindruck

Koordinierte Terroranschläge in Westeuropa sind eine neue Erscheinung

Wenn Terroristen Anschläge an mehreren Orten gleichzeitig durchführen, sorgen sie für höhere Opferzahlen und grössere Verwirrung bei den Sicherheitskräften. Diese Taktik kam auch am 13. November 2015 in Paris zum Einsatz. Provisorische Daten für das laufende Jahr deuten darauf hin, dass die weltweite Zahl von koordinierten Anschlägen mit vielen Opfern wie auch schon 2014 ungewöhnlich hoch ist. So zählte die globale Terrorismusdatenbank zwischen Januar und Juni 2015 elf Anschläge, die mehr als 100 Tote und Verletzte an einem Tag forderten.

In der untersuchten Periode von 1970 bis 2014 können in Westeuropa 354 Anschläge als koordiniert eingestuft werden. Besonders in den 90er-Jahren griffen Terrororganisationen oft auf diese Methode zurück, indem sie beispielsweise Bomben an mehreren Orten gleichzeitig zur Explosion brachten.

Fünfter Eindruck

Terroristen haben es in Westeuropa auf sogenannte weiche Ziele abgesehen

Die jüngsten Angriffe in Paris richteten sich gegen sogenannte weiche Ziele. Gemeint sind Orte, wo grosse Menschenmengen zusammenkommen und es an strengen Sicherheitsmassnahmen fehlt. Das perfide Kalkül der Terroristen: Mit geringem Aufwand können sie möglichst viel Schrecken verbreiten. Am 13. November 2015 umfassten die Ziele unter anderen Restaurants, ein Konzertsaal sowie ein Fussballstadion. Die globale Terrorismusdatenbank der Universität von Maryland erfasst diese Unterkategorie von Zielen und führt sie unter dem Oberbegriff “Wirtschaft/Firmen” zusammen.

Zwischen 1970 und 2014 kam es in Westeuropa zu 327 Angriffe auf Restaurants und Bars. 206 Attacken waren gegen Unterhaltungseinrichtungen wie Stadien und Casinos gerichtet. Beide Kategorien zusammen machen knapp 5 Prozent aller Angriffsziele aus.

Am häufigsten griffen Terroristen in Westeuropa Banken und gewerbliche Einrichtungen an. Bemerkenswert ist: Vor allem Unabhängigkeitsbewegungen und weniger linksextreme Gruppen haben ihr Augenmerk auf Geldhäuser gerichtet. Ihr Ziel: Der Lebensnerv des angegriffenen Staates sollte getroffen werden.

Sechster Eindruck

Die Anschläge vom 13. November 2015 in Paris sind die bisher schlimmsten in Westeuropa

Die bisher verheerendsten Anschläge auf europäischem Boden waren die Attentate auf Pendler vom 11. März 2004 in Madrid. Mehrere Bombenexplosionen in S-Bahnen forderten 191 Tote und über 1800 Verletzte. Die Anschläge hatten einen dschihadistischen Hintergrund.

Siebter Eindruck

Arabische Terrororganisationen sind für die meisten Todesopfer in Westeuropa verantwortlich

In den vergangenen 44 Jahren haben sich 725 verschiedene Organisationen zu mindestens einem Anschlag in Westeuropa bekannt. Generell lässt sich festhalten, dass die meisten Toten auf das Konto europäischer Terrororganisationen gehen. Die katholische irisch-republikanische Armee (IRA) hat durch ihre Aktionen 1016 Personen getötet und knapp 3000 Menschen verletzt. Sie führt damit vor Baskenland und Freiheit (ETA) und  der protestantischen Ulster Volunteer Force (UVF) die unrühmliche Liste der mörderischsten Gruppen an. Alle drei Organisationen sind separatistischen Untergrundbewegungen zuzuordnen.

Die bedrohlichste arabische Terrororganisation in Westeuropa dürften die Abu-Hafs-el-Masri-Brigaden sein. Sie stehen der al-Qaida nahe und haben sich zu den Anschlägen in Madrid 2004 bekannt.

Achter Eindruck

Die Schweiz als neutrales Land bleibt von Terrorismus verschont

Als Standort von internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen in Genf kann die Schweiz zu einem naheliegendes Ziel von Terroristen werden.  Zwischen 1970 und 2014 wurden hierzulande 91 Anschläge verübt, die mindestens 60 Tote und 70 Verletzte gefordert haben. Der blutigste unter ihnen, ein Paketbombenanschlag der «Volksfront zur Befreiung Palästinas – Generalkommando» (PFLP-GC) auf eine Swissair-Maschine am 21. Februar 1970 über dem aargauischen Würenlingen, kostete 47 Menschen auf einmal das Leben.

Linksextremismus, Nahost-Konflikt und türkisch-armenischer Konflikt waren der häufigste Hintergrund für Terroranschläge auf Schweizer Boden.

Auch wenn die Schweiz nicht an Militäraktionen gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) teilnimmt, so wurde das Land in mindestens zwei Propagandavideos als Feind genannt. Zudem hat die Bundesanwaltschaft Anklage gegen eine mutmassliche IS-Zelle aus dem Kanton Zürich erhoben.

Neunter Eindruck

Der dschihadistische Terrorismus wird Europa noch lange beschäftigen

Die irisch-republikanische Armee (IRA) hat dank einer parallelen Organisationsstruktur von militärischen Hierarchiestufen und kleinen Terrorzellen die britischen Sicherheitsbehörden fast 30 Jahre auf Trab gehalten. Erst mit dem Karfreitagsabkommen von 1998 hat die IRA von Waffengewalt abgeschworen.

Die Terrorismusforscher der Universität von Maryland sehen drei Hinweise, dass sich auch der sogenannte Islamische Staat (IS) zu einer “beständigen Bewegung” entwickelt: einzigartiger Führungsstil, moderner Einsatz von sozialen Netzwerken und hohe Legitimation in einer instabilen Region. Im Gegensatz zu anderen dschihadistischen Gruppen pflege der selbsternannte Kalif Abu Bakr al-Baghdadi einen kooperativen Führungsstil mit seinen Untergebenen. Weiter schaffe es ein hochprofessionelles Medienteam, die muslimische Gemeinschaft sowie potenzielle Kämpfer ausserhalb des Einzugsgebiets anzusprechen. Schliesslich habe sich der IS als erfolgreiche Organisation positionieren können, die eine unverfälschte Mission verfolge.

Zehnter Eindruck

Der Terrorismus in Westeuropa ist global geworden

Die Vorstellung ist erschreckend: Der sogenannte Islamische Staat (IS) scheint in der Lage zu sein, von Syrien aus fürchterliche Anschläge in Europa durchzuführen. Es ist unklar, ob die Terroristen in Paris tatsächlich direkte Anweisungen und logistische Unterstützung vom IS erhalten haben.

Eine globale Dimension hatte der Terrorismus in Westeuropa aber immer schon. Nicht nur arbeiteten europäische Terrorgruppen wie die deutsche Rote Armee Fraktion (RAF) oder die irisch-republikanische Armee (IRA) mit Organisationen und Regimes im Nahen Osten zusammen. Es wurden auch aussereuropäische Konflikte in westeuropäischen Metropolen ausgetragen, um grösste Aufmerksamkeit zu erlangen. Vor allem palästinensische, armenische und kurdische Bewegungen haben mit Terrorismus auf ihre Sache aufmerksam gemacht.

Zu den exotischeren Gruppen gehören die Befreiungsarmee von Guadeloupe und die karibische revolutionäre Unabhängigkeitsarmee.

Die Universität von Maryland führt seit dem Jahr 2001 eine globale Terrorismusdatenbank, die laufend aktualisiert wird. Die Forscher haben für den Zeitraum 1970 bis Ende 2014 über 140’000 Anschläge erfasst, die weltweit verübt worden sind.

Da es keine international anerkannte Definition von Terrorismus gibt, wendet die US-Universität eigene Kriterien an. So muss die Tat unter anderem gewaltsam sein und darauf abzielen, politische, soziale, wirtschaftliche oder religiöse Ziele zu erreichen. Das Jahr 1993 ist aufgrund verloren gegangener Daten unvollständig dokumentiert.

Für ihre Analyse hat die Redaktion knapp 12’200 Angriffe in Westeuropa berücksichtigt, die erfolgreich waren und über deren terroristischen Hintergrund es keine Zweifel gibt.

Bei den Opferzahlen sind Terroristen, die bei ihren Aktionen getötet oder verletzt worden sind, mit eingerechnet.



Impressum

Recherche und Text: Jon Mettler

Grafiken und Programmierung: Jon Mettler

Bildrecherche und Bildbearbeitung: René Wüthrich

Bilder: Keystone

Ein Multimedia-Projekt der BZ Berner Zeitung

Terrorismus in Westeuropa
  1. Erster Eindruck
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  3. Zweiter Eindruck
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  5. Die animierte Karte des Terrors
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